Die Skulpturen von Mathias Kadolph sind aus Ahorn, Esche, Eiche, Kirsche, Linde, Pappel, seltener aus Eibe oder Elsbeere und: abstrakt! Sie stehen auf oder schweben knapp über dem Boden, ausbalanciert auf einer Ecke oder Kante, oder sie hängen an einer Wand. Was man zu erkennen glaubt, sind geometrische, manchmal auch architektonische Formen: Würfel, Stufen, Arkaden. Die Werke entziehen sich aber jeder eindeutigen Kategorisierung. Mit jedem Perspektivenwechsel verändert sich ihr Charakter, je nachdem, ob zum Beispiel gerade eine geschlossene oder offene Seite oder eine Kante in den Vordergrund tritt. Hinzu kommt die Widersprüchlichkeit, dass die Plastiken materiell schwer und kompakt, formal aber leicht und verspielt wirken, weil sie immer auch durch- oder aufgebrochen sind, gestaltete Binnen- und Hohlräume aufweisen.

Im Schaffensprozess tritt die künstlerische Umsetzung einer gestalterischen Idee, die vorher zeichnerisch festgehalten wurde, in schöpferischen Dialog mit dem Material Holz in seiner gewachsenen Form. Vorgefundene Strukturen werden bearbeitet oder herausgestellt, indem Teile entfernt oder ergänzend hinzugefügt werden. Die Nahtstellen sind sichtbar belassen. In den Skulpturen Mathias Kadolphs verschmelzen Natur und Kunst, gewachsenes Holz mit gestaltendem, künstlerisch-ästhetischem Willen.

Die Skulptur „Interim“ steht hell leuchtend schräg im Raum. Der Titel bedeutet lateinisch “inzwischen“, „unterdessen“, ein Begriff für eine Übergangsregelung. Zwei Aspekte sind ihr wesentlich: die begrenzte Ausdehnung in Raum und Zeit sowie die Exponiertheit. Sie füllt auf eine andere Art und Weise einen Leerraum zwischen zwei „normalen“ Zuständen. Das Transitorische und das Besondere: zwei Qualitäten.

In leichter Aufsicht erscheint die Skulptur als schief verlaufende Zickzacklinie, von der Seite gesehen als ein sich zuspitzendes Vor und Zurück, oder Hin und Her. Folgt man einer abtastenden Wahrnehmung aus der Nähe, ist die Skulptur Ausdruck großer Unruhe oder Aktivität, als Gesamtbild aus der Distanz erinnert sie an eine flexible, dehn- oder pressbare Feder: Dynamik und Flexibilität treten in Opposition zur Schwere und Massivität des Materials. Je nach Position des Betrachtenden stellt sich die Skulptur anders dar. Eine Seitenansicht zeigt elegante, schmale Grate der Zackenform, die andere hingegen rohe, sehr unterschiedlich breite, beim kleinsten, niedrigsten Element eine runde Baumscheibe, noch mit Rinde, beim höchsten eine blockförmig, breit werdende geschlossene Front. Dieser massive Teil der Skulptur gerät in der Aufsicht vollständig aus der Form, indem die Zickzacklinie zum Dreieck verbreitert wird. Auch die beiden frontalen Ansichten sind sehr unterschiedlich: Das niedrige Ende zeigt eine an drei Seiten begradigte Baumscheibe, das obere einen ungleichmäßig geformten Holzblock mit einem weggeschnittenen und gekittetem Abschnitt und Rissen. Die Gegensätzlichkeit der verschiedenen Ansichten setzt sich fort, betrachtet man sie als Einzelne für sich. Auch hier wird die Erwartung immer wieder enttäuscht, die logische Folge durchbrochen: die Vorderkante der kleinsten schmalen Zacke ist am breitesten, die Größte ist an ihrem unteren Ende am schmalsten, in der Aufsicht verbreitert sich ausgerechnet die oberste Zacke usw. … Keine Sicht zeigt eine geschlossene, „perfekte“ Form, immer gibt es Abweichungen, Brechungen oder Veränderungen, bzw. Erweiterungen der Strukturen. Unsere Wahrnehmung wird wach gehalten, unsere Versuche, die Skulptur einzuordnen und damit abzutun, scheitern und werden gleichzeitig immer wieder aufs Neue provoziert. Wir werden neugierig und meinen, eine Form zu erkennen. Sobald wir uns nähern oder die Perspektive verändern, sehen wir jedoch schon wieder etwas ganz anderes. Diese Anregung der aktiven Mitarbeit des Betrachters ist auch Anliegen des Bildhauers Carl Andres, in dessen Tradition sich Mathias Kadolph sieht. „Ich denke, Skulptur sollte einen nicht festgelegten Blickpunkt haben.“ ¹

Trotzdem zerfallen Kadolphs Skulpturen nicht in Teilansichten oder beliebige Einzelelemente. Dank ihrer Aura von gewachsener Massivität behaupten sie sich als monolithische Blöcke. Ein zweites Vorbild, das Kadolph benennt, ist Eduardo Chillida. Beide Künstler verbindet ein Erststudium der Architektur. Chillida schreibt zum Aspekt des Transitorischen: „Eine Skulptur muss immer die Stirn bieten und auf alles achten, was sich um sie herum bewegt und sie lebendig macht“ ² und: „Wo hat der Mensch bloß die Idee (die Vorstellung) der Stabilität her? Ist nicht gerade die Stabilität das widernatürlichste und lebensfremdeste Konzept von allen? Sind hingegen Zeit und Raum nicht die Verneinung der Stabilität und die Bejahung des Wandels?“ ³

Kunst erlaubt sowohl dem Künstler als auch dem Betrachter die bewusste Erfahrung dieses Einzigartigen, Nicht-Wiederholbaren, das sowohl in der künstlerischen Freiheit der Gestaltung als auch der Deutung möglich ist: etwas Prozessuales, wie Wahrnehmen, Staunen, anschauliches Denken und Erkennen, das nicht rational in Begriffen fassbar ist. Die Offenheit, das Ineinander-Übergehen nicht klar zu definierender, verschiedener Eindrücke zeichnet ursprüngliche Lebendigkeit aus. Und dieses Transitorische, diese Dynamik, provozieren die Arbeiten von Mathias Kadolph besonders intensiv und in besonderer Form: sowohl körperlich – indem man immer wieder dazu verführt wird, um die Skulpturen herumzugehen –, als auch gedanklich – da man zu keiner abschließenden Deutung kommt. Dass wir nicht vorschnell zurückfallen in unser im Alltag überlebenswichtiges Schubladendenken, Einordnen, Ablegen und Beiseiteschieben, das ist kreative Freiheit, an der uns die Arbeiten dieses Bildhauers teilhaben lassen, wenn wir bereit sind, den Dialog mit Ihnen zu beginnen und weiterzuführen.

Dr. Iris Plate

¹ Carl Andre in einem Interview mit Phyllis Tuchman, Artforum. 1970 (https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Andre)
² Eduardo Chillida, Schriften, Düsseldorf 2009, S. 66
³ Eduardo Chillida, Schriften, Düsseldorf 2009, S. 105